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Auf dem Spielplatz
Der Sommer näherte sich bereits dem Ende, als ich im hohen Gras lag, die ziehenden Wolken beobachtete, und mich plötzlich fragte, was es eigentlich heißt, im Gleichgewicht zu sein. Während ich darüber nachdachte, fiel mir eine Szene aus Kindertagen ein. Eine Spielplatzszene.
Zwei Mädchen auf einer Wippe, die versuchen, in die Balance zu kommen. Keine leichte Aufgabe, denn die beiden sind unterschiedlich groß und schwer. Schließlich aber schaffen sie es doch. Jubel ertönt, Freudengeschrei. Ein Glücksmoment.
Ich lag also im Gras an jenem Spätsommertag und staunte darüber, wie aus dem Ringen nach Gleichgewicht Glück entstehen kann. Und dieses „errungene“ Glück interessierte mich plötzlich.
Die Kunst der Balance
Vom Sternbild her bin ich eine Waage. Ein Tierkreiszeichen also, das nach Harmonie klingt, nach der schönen Kunst, mit sich selbst in Einklang zu sein. Bin ich aber nicht. Ganz und gar nicht. Solange ich denken kann, gehöre ich zu den unausgewogenen, extremen Seelen. Vielleicht ist das der tiefere Grund, weshalb mich das Thema „Im Gleichgewicht sein“, immer schon fasziniert, und ich heute einmal über die Waage in mir nachdenken möchte. Lässt sich die Kunst der Balance, der Ausgeglichenheit eigentlich erlernen, so wie Eiskunstläuferinnen irgendwann die „eingesprungene Waage“ beherrschen, jene wirbelnde Pirouette, bei der sich alles ums Gleichgewicht dreht?
Neulich las ich einen Witz in der Zeitung. Da spaziert ein Mann durch Wien und fragt einen anderen, ob er ihm sagen könne, wie er zu den Philharmonikern komme. Der Angesprochene schaut ihn lange an, nickt schließlich und sagt: „Üben …, üben …, üben …“
Wer weiß, vielleicht ist das ja auch die Antwort auf meine Frage. Vielleicht macht allein die Übung uns zu Meisterinnen der inneren Balance.
Fest steht: Im Gleichgewicht zu sein ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn im Gleichgewicht zu sein bedeutet, in Balance mit mir und meinem Leben zu sein. Und das wiederum heißt, im Einvernehmen mit meiner Vergangenheit. Was nicht immer einfach ist.
Denn in vielen unserer Lebensgeschichten gibt es Schmerzhaftes, vor dem wir gern die Augen verschließen. Verletzungen und Enttäuschungen aus früherer Zeit, Wunden, die niemals verheilt sind.
Wer im Gleichgewicht sein will, wer sein Leben im Hier und Jetzt genießen will, diese Erfahrung habe ich gemacht, kommt um das Wagnis eines Sprunges in die Vergangenheit mitunter nicht herum. Ein Springender aber braucht Mut. Warum? Weil er nie genau weiß, wo und wie er landen wird. Auch ein Sprung in die Vergangenheit kann ein Wagnis sein, eine Ungewissheit, ein Risiko. Denn die eigenen Wunden anzuschauen, sich mit alten Verletzungen auseinander zu setzen, kann weh, ja sehr weh tun.
Unser Körper ist ein wunderbares Instrument, das uns sagt, wann es Zeit ist, nötige Schritte zu unternehmen. Er ist eine Art Frühwarnsystem, das auf kleinste Erschütterungen reagiert. Und obwohl er eine deutliche Sprache spricht, neigen wir oft dazu, seine Signale zu übergehen.
Wir mögen sie nicht, diese ungeliebten Störungen. Dabei wollen sie uns Wichtiges mitteilen: Zum Beispiel, dass wir Gefahr laufen, gefährlich abzustürzen, wenn wir so weiter machen wie bisher, dass wir krank werden, wenn wir die Warnungen länger missachten. Aber genau das wollen wir eben nicht hören. Weil es nicht in unseren bewegten Alltag, unsere pausenlose Geschäftigkeit passt. Unpässlichkeit, das ist doch wie Nachsitzen in der Schule. Das ist doch Strafe. Während die anderen alle schon auf und davon sind, hocken wir wie fest, verdonnert zu dieser verdammten Zwangspause. Aber jede Unterbrechung, jede Aufmerksamkeit, die ein Körper einklagt, jede verschlüsselte Botschaft, die er sendet, kann genau das Gegenteil von Strafe sein. Chance nämlich. Angebot.
Eine Freundin von mir, die täglich mit dem Zug zur Arbeit fährt, musste sich eines Morgens von einer aufgebrachten Dame den Vorwurf gefallen lassen, dass der Platz, auf dem sie sitze, ihr Platz sei. „Mag sein“, hat meine Freundin lächelnd geantwortet, „heute aber nicht!“
Auch unser Körper zwingt uns mitunter, aus dem Festgefahrenen auszuscheren und Dinge anders zu machen als gewohnt. Ob wir es wollen oder nicht. Vielleicht ist es an der Zeit, eine neue Achtsamkeit, ein feineres Gespür dafür zu entwickeln, was unser Körper uns sagen will.
Die Seiltänzerin
Stellen wir uns eine Seiltänzerin vor. Eine Art Primaballerina, die, hoch oben in einer bunten Zirkuskuppel über das Seil balanciert. Das Allerwichtigste, um in dieser schwindelerregenden Höhe im Gleichgewicht zu bleiben, ist gar nicht so sehr der lange Stab, mit dem sie sich austariert, als vielmehr die ständige Bewegung, in der sie sich befindet. Würde sie in absoluter Ruhe auf dem Seil verweilen, würde sie stehenden Fußes in die Tiefe stürzen.
Auch wir, die wir allesamt Tänzer/innen auf unserem Lebensweg sind, Balancekünstler/innen im besten Sinne des Wortes, tun gut daran, uns in der Selbstwahrnehmung zu üben. Um drohende Abstürze zu vermeiden, ist es wichtig, ja mitunter lebenswichtig, unser Gespür für feinste Nuancen und Schwingungen zu trainieren, um früh genug zu erkennen, was uns aus dem Gleichgewicht bringt, was nicht stimmig ist in unserem Leben, was uns über Gebühr belastet. Wo Vergangenes möglicherweise zu schwer wiegt, um es länger tragen zu können.
Schlussgedanke: „Gib Worte deinem Schmerz. – Gram, der nicht spricht, presst das beladene Herz, bis dass es bricht.“ William Shakespeare