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Der Blick in den Spiegel
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ So und nicht anders heißt die wohl berühmteste Spiegel-Szene in der Literatur. Was die Königin im Märchen dazu treibt, diese Frage wieder und immer wieder zu stellen, kennen wohl viele Frauen. Selbstzweifel. Das ungute Gefühl, die tiefsitzende Unsicherheit, nicht attraktiv genug zu sein. Schönheit ist ein gefragtes Gut. Leben wir doch in einer Zeit auffälligen Körperkultes. Das ewige Blühende ist gefragt, Schönheit in Permanenz, Perfektion, Makellosigkeit. Frauen und Schönheit – eine unendliche Geschichte.
Wenn ich in meine Kindheit im Rheinland zurückblicke, fällt mir auf, dass sich mein Bruder an Karneval gern in den unterschiedlichsten Kostümen ausprobierte. Ich dagegen ging stets als Prinzessin. Einmal bekam ich an Rosenmontag von einer Nachbarin zwei D-Mark geschenkt. Weil ich so hübsch aussehen würde, wie sie sagte. Mein Bruder, der als Zorro die Peitsche schwang und kein Geld bekam, fand das ungerecht. Ich nicht. Wahrscheinlich, weil ich damals schon gespürt habe, dass hübsch sein viel anstrengender ist als abenteuerlich sein.
Immer schon unterliegen Frauen mehr als Männer den herrschenden Schönheitsidealen. Ideale, die ein Verfallsdatum haben, heißt doch Schönheit zu jeder Zeit etwas anderes. Natürlich wissen wir alle, wenn wir uns morgens im Spiegel betrachten, dass es Unsinn ist, uns ein Schönheitsideal diktieren zu lassen. Auch wissen wir, dass bei der Schönheit, nach der wir Ausschau halten, ganz wesentlich unsere Persönlichkeit zählen sollte und nicht allein die Summe unserer Äußerlichkeiten. Wie gesagt, wir wissen das alles.
In Hans Christian Andersens Märchen von der „Schneekönigin“ besitzt der Teufel einen Spiegel, zu dessen garstigen Eigenschaften es gehört, alles Gute und Schöne, Edle und Vortreffliche, das sich darin spiegelt, in Nichts zusammenschrumpfen zu lassen, während das Schlechte und Unschöne darin besonders hervortritt und sich noch vergrößert. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass uns die Werbung und auch die sozialen Medien, diese schillernden Scheinwelten, solch einen „teuflischen“ Spiegel vorhalten. Eine Art Zerrspiegel, der zum Problem werden kann. Denn der Versuch, unser Spiegelbild mit Gewalt in eine Idealvorstellung zu pressen, ist das Gegenteil von Selbstliebe und Akzeptanz, ist vielmehr Feindseligkeit und Erstarrung. Abschied nehmen von diktierten Schönheitsidealen, heißt demnach Frieden schließen mit unserem Aussehen. Heißt, uns wohlwollend im Spiegel zu betrachten, uns nicht allein auf Äußerlichkeiten zu reduzieren, uns vielmehr in unserer Ganzheit wahrzunehmen. Wir alle sind großartig und wertvoll und haben es verdient, uns so anzunehmen, wie wir sind.
Älter werden
Gerade das Alter, laut Werbung der Schönheitskiller schlechthin, wird von vielen Menschen zum Feind erklärt, der gnadenlos bekämpft werden muss. Ein Kampf gegen Windmühlen. Lauert das Alter doch – wie bei der Königin im Märchen – in der Tiefe eines jeden Spiegels. Dort, wo auch heute noch eine Stimme zu flüstern scheint, dass die Schönste im Land, immer die Jüngere ist.
Leben aber heißt nun einmal älter werden. Und älter werden heißt Abschied nehmen: Von Möglichkeiten, Perspektiven, von Spiegelbildern, die es nicht mehr gibt und nie mehr geben wird. Kein schmerzloser Prozess. Altern heißt den Mut entwickeln, genau das anzunehmen, heißt furchtlos, aber nicht faltenlos zu sein. Wir sollten uns nicht schämen, wenn sich uns die verflossenen Jahre ins Gesicht eingeschrieben haben. Leben bedeutet Höhen und Tiefen zu durchwandern, sich mit Geschehenem auszusöhnen. Auch mit größtem Leid, mit all den Verletzungen, die wir uns selbst oder die andere uns zugefügt haben. Solcherart Entwicklung ist ein lebendiger Prozess, der in der Tiefe und nie an der Oberfläche stattfindet. Ein Prozess, der Kraft freisetzt und uns auf ganz eigene Weise schön und besonders macht.
Für mich ist Schönheit die Vollkommenheit eines in sich ruhenden Menschen. Eines Menschen, der zu seinen Ecken und Kanten, seinen Stärken und Schwächen steht, sich fürs Leben begeistert und selbst in düsteren Tagen einen unerschütterlichen Glauben an das Gute ausstrahlt. Für mich ist Schönheit die Fülle des Lebens, die Freude daran, ist Selbstverwirklichung, ständige Spurensuche, Neugier und Zufriedenheit. Wenn sich eine korpulente Frau anmutig bewegt, so ist das schön. Wenn ein uralter Mensch aus faltigem Gesicht heraus die Welt mit den Augen anlacht, so ist das auch schön. Schönheit ist für mich nicht das Tadellose, das Ebenmäßige, das Genormte und Festgesetzte. Schönheit ist das Individuelle. Der Wildwuchs. Das eingeschriebene Leben. Wir sind auf Unterschiedlichkeit, auf Einzigartigkeit angelegt. Allein diese Vielfalt macht das Leben spannend und lebendig. Jeder Mensch hat neben seinem besonderen Aussehen, seine ganz besonderen Gaben und Talente mit auf den Weg bekommen. Diese Gaben und Talente in Form ureigener Kreativität zu kultivieren und auszuleben, scheint mir der beste Schönmacher zu sein.
Uns schön finden
Wir alle kennen das Phänomen, dass wir uns schön finden, wenn es uns gut geht. Wenn wir etwas geschafft haben, was uns wichtig ist, wir uns für eine Idee engagieren oder wenn wir verliebt sind. Wenn wir uns wohlwollende, großzügige und liebevolle Gastgeber/innen am Tisch des Lebens sind. Manchmal müssen wir diese Wertschätzung und Akzeptanz ganz neu lernen. Die Schlüsselworte heißen Liebe und Selbstannahme. Ein mit solcher Liebe gesegneter Mensch wirkt unwiderstehlich, strahlt er doch seinen inneren Reichtum mit ganzer Kraft nach außen. Diese Verkörperung, diese Ausstrahlung, dieses Lachen der Seele, ist das Geheimnis von Schönheit. Wer sie sehen will, wird sie finden. In jedem Spiegel.
Schlusswort: „Und wenn wir die ganze Welt durchreisen, um das Schöne zu finden. Wir müssen es in uns tragen, sonst finden wir es nicht.“ Ralph Waldo Emerson