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Liebe im Blick
Gern erinnere ich mich an eine faszinierende alte Dame, klein und zierlich, zart und zerbrechlich, wie durchschimmernd die Haut ihrer Hände. Dabei eine auffällige Erscheinung in einem hellen Hosenanzug, geschminkt, rot lackierte Fingernägel. Bei einem Sektempfang setzte sie sich neben mich und verriet mir lächelnd, ihr hundertster Geburtstag stehe vor der Tür. Hundert!! Ich wollte es nicht glauben. Damit war sie doppelt so alt wie ich damals.
Sie kannte diese Reaktion und versicherte mir, dass diese zweite Null wirklich alles verändere im Leben. Aber Krise? Nein. Von Krise sprach sie nicht. Sie stellte nur fest, dass das Ende zum Greifen nah sei. Über einen Achtzigjährigen, der sich zu uns setzte und das Klagelied des Alters anstimmte, lachte sie nur. „In Ihrem Alter bin ich noch ziemlich forsch Auto gefahren“, sagte sie.
Beeindruckt hat mich ihre Entscheidung, nicht ständig über die gute alte Zeit zu reden, vielmehr das Gute im Hier und Jetzt zu entdecken. Und so staunte ich nicht schlecht, als sie mir verriet, diesen so besonderen Geburtstag in Venedig zu feiern. „Tod in Venedig“, schoss es mir durch den Kopf. Aber nach Sterben à la Thomas Mann sah sie nun gar nicht aus. Ganz im Gegenteil. Obwohl sie bereits „fürchterlich geschrumpft“ war, wie sie schimpfte, wirkte sie erstaunlich lebenslustig. Venedig, die langsam untergehende Lagunenstadt, die eben noch nach Tod geklungen hatte, verwandelte sich bei ihrem temperamentvollen Auftritt in ein Symbol der Lebensfreude.
Obwohl sie lange schon nicht mehr über die Sehkraft verfügte, die sie sich wünschte, hatte sie einen Blick für alles, was um sie herum war. Nichts blieb unentdeckt. Alles fand ihre Beachtung und jeder neue Gast, der zur Tür hereinkam, weckte ihr Interesse. Immer wieder winkte sie die jungen Bedienungen zu sich, um mit ihnen ein paar Worte zu wechseln und möglichst viele der köstlichen Kleinigkeiten zu probieren, die sie auf silbernen Tabletts herum reichten. Nichts und niemanden auslassen, schien ihre Devise zu sein. Sich für alles zu interessieren, für Lebensentwürfe genauso wie für Küchenrezepte.
Und weil sie sich für das Leben in all seinen Ausprägungen nicht nur interessierte, sondern regelrecht begeisterte, hatte sie erstaunlich viel zu erzählen. Egal, ob jemand sie auf ihre Handtasche, ihre Schuhe oder ihre Brille ansprach, sogleich und sofort hatte sie eine Geschichte parat. Es war, als unterhielte sie Beziehungen zu all den Dingen, die sie bei sich trug, als wäre nichts von dem, was sie umgab, wirklich leblos. Alles, was zu ihr gehörte, füllte sie mit Leben. Und dadurch füllte sie sich auch selbst mit Leben und Energie.
Vieles von dem, was sie an jenem Tag erzählt hat, habe ich vergessen. Eine Äußerung allerdings ist mir im Gedächtnis geblieben und wird mir wohl für immer im Gedächtnis bleiben. „Sie erleben immer so viel“, hatte jemand im Vorbeigehen gesagt. Und sie hatte geantwortet: „Nein, ich bekomme nur viel mit.“
Alle Aufmerksamkeit dem Augenblick
Liebe im Blick, das ist eine Liebe, die mit Alter und Sehfähigkeit nichts zu tun hat. Ist eine Liebe, die innere Haltung, die vollkommene Zuwendung ist. Sie bedeutet ein unverzagtes, nimmermüdes Ja zum Augenblick, zum Jetzt. Der wichtigsten Zeit, die wir haben.
Liebe im Blick ist eine Kunst, eine Zärtlichkeit der Welt und mir selbst gegenüber, eine Kunst, die wir lernen können, an jedem Tag, in jedem Augenblick. Eine Liebe auch, wie die alte Dame mir eindrucksvoll vor Augen führte, die zu verjüngen scheint.
Noch heute sehe ich sie auf dem roten Sofa thronen. Eine Altgewordene, die nicht alt war. Eine Hundertjährige, die hochaufgerichtet, mit gespanntem Rücken und neugierigen, unermüdlich umher tanzenden Augen dasaß. Eine Königin, eine alte Königin, die mit ihren wachen, im Laufe der Jahrzehnte trübe gewordenen Augen, so viel Leben wie möglich einzufangen versuchte.
Liebe im Blick. Das heißt, alle Aufmerksamkeit dem Augenblick. „Aufmerksamkeit“ wiederum, diese Botschaft versteckt sich im Wort, hat etwas mit Aufmachen, mit Sich-Öffnen, mit Offenheit zu tun. Mit dem Wahrnehmen all dessen, was um uns herum ist.
Es gibt eine Geschichte von Jean Paul Sartre, in der sich zwei Menschen, die sich im Himmel begegnen, unsterblich ineinander verlieben. Ein Himmel, in dem der „Artikel 140“, ihnen die Erlaubnis erteilt, als Liebende noch einmal auf die Erde zurückzukehren. Allerdings nur für vierundzwanzig Stunden. Wenn sie es schaffen, ihre Liebe in dieser Zeit zu leben, dann dürfen sie auf der Erde bleiben. Mit anderen Worten: Der Himmel schenkt ihnen die Chance eines Neuanfangs. Nun kommen die Liebenden also zurück auf die Erde. Und was passiert? Beide können sie das Alte, das Vergangene nicht loslassen. Und weil sie sich nur um ihr Gestern und nicht um ihr Heute kümmern, sprich ihre Liebe im Stich lassen, müssen sie zurück in den Himmel. „Das Spiel ist aus“, lautet der Titel der Geschichte.
Liebe im Blick, heißt das Spiel des Lebens ganz bewusst zu spielen. Heißt, mit allen Sinnen und mit weit geöffnetem Herzen den Augenblick wahrzunehmen. Aufmerksamkeit ist ein Akt des Sich-Verbindens. Wer Liebe im Blick hat, verbandelt sich im Jetzt, flirtet mit dem Leben. Wer Liebe im Blick hat, ist dem Himmel auf Erden ein Stück näher.
Schlussgedanke: „Heut ist mir alles herrlich; wenn‘s nur bliebe! / Ich sehe heut durchs Augenglas der Liebe.“ Johann Wolfgang von Goethe
…eine wunderschöne kleine Geschichte, die zum Nachdenken anregt..mit weitgeöffneten Herzen den Augenblick wahrzunehmen…es drückt so viel aus..vielen Dank, liebe Petra, für die wunderbaren Worte…
Liebe Dagmar,
Dank dir von Herzen für Deine so schön formulierten Worte. Wenn Du Menschen kennst, die sich ebenfalls an meinen Texten erfreuen könnten, wäre es prima, wenn du meinen Blog weiter empfiehlst. Herzlichst, Petra