Text lieber hören,
Text als Audiodatei
Sich aufmachen
Wer die Herrlichkeit des Herbstes erleben will, muss sich aufmachen und vor die Tür gehen. An einem sonnigen Morgen zum Beispiel durch Wald und Wiesen wandern, und sie atmen und spüren, diese wundervolle Jahreszeit, in der die Sonne sich neigt und die Schatten länger werden.
Wer lieber daheimbleiben möchte, dem seien Dichterworte ans Herz gelegt. Denn sie, die bekanntermaßen das Bleibende stiften, haben den Herbst in all seiner Schönheit ins Wort gebracht. Folgen wir also ihren Spuren und sammeln Worte auf wie buntes Laub.
So spricht Friedrich Hebbel vom Herbst als einer „Feier der Natur“, Nikolaus Lenau dagegen, der lebenslange Melancholiker, vom „milden Sterben“.
Wohl beide haben sie Recht. Denn der Herbst ist beides: ist ‚Feier‘ und ‚Sterben‘ zugleich. Ja, er ist auf geheimnisvolle Weise doppelgesichtig.
Stoppelig kommt er daher, umweht vom Duft seiner kühler werdenden Tage. Seinem verschwitzten Vorgänger im grünen Wams weist er freundlich, aber bestimmt die Tür. Ende der Vorstellung! Sommerschluss! Denn jetzt betritt er die Bühne. Virtuos verwandelt er die Welt in eine Symphonie unvergleichlicher Farben, eine Komposition des Abschieds.
Ein kühler Ästhet
Der Herbst, der sich lustvoll in immer neue Farben kleidet, liebt die Schönheit. Alles soll bei ihm in Schönheit geschehen, selbst das Verwelken und Vergehen. Dieses Sterben in Schönheit ergreift die Seele, bezaubert uns.
Und doch! – bei aller Verzauberung kann die farbig verblühende Welt auch ein leises Unbehagen in uns wecken. Zeigt doch die Vergänglichkeit hier frech ihr Gesicht, lacht uns an, inmitten all der Schönheit. Der Herbst, im Gegensatz zu uns, fürchtet sie nicht, die Vergänglichkeit. Er schmückt sich mit ihr, steckt sie sich ans Revers wie ein vertrocknetes Wiesensträußchen. Seine freundschaftliche Nähe zu ihr wiederum kann uns das Gemüt schwer machen. Wie der gedankenreiche Friedrich Nietzsche meint, sogar „das Herz brechen“. Auch das stört den Herbst nicht. Er ist und bleibt ein kühler Ästhet. Einer, der unermüdlich verkündet, dass unter seinen Händen etwas zu Ende geht. Wie den Raureif am Morgen, so legt er Abschied auf alles. Selbst auf das Licht, das goldgelbe, das nach sommerlicher Üppigkeit langsam verlöscht, dahinschwindet. „Lass los!“ scheint er uns zuzuflüstern, „alles kommt, wie es kommen muss!“
Bei aller Traurigkeit und bei allem Abschied entpuppt sich der Herbst aber auch als ein recht lustiger Prinz Karneval. Einer, der buntes Laub wie Konfetti verstreut. In Straßen, Parks und Wäldern, allüberall wirft er es mit gutgelaunten Händen aus, lässt es, zusammen mit seinem Freund, dem Wind, herumwirbeln und tanzen.
Jedes Blatt ein fein gezeichnetes, filigranes Kunstwerk, oft von betörender Leuchtkraft. Einige dieser wertlosen Kostbarkeiten steckt er sich ins Haar, bekränzt sich damit. Andere zieht er wie eine Schleppe hinter sich her, während ihm die Sonne tief im Gesicht steht. Das Weinlaub zum Beispiel, das rote und gelbe.
Der Herbst herbstet
Aber plötzlich, gleichsam über Nacht, mag der Herbst nicht mehr fröhlich sein. Mag kein Laub mehr streuen oder sich auch nicht damit schmücken, mag selbst seine inszenierte Farbenpracht nicht mehr ansehen. Der Herbst herbstet sozusagen, sagt leise „Adieu!“ und seufzend „Auf Wiedersehen!“
Sein purpurrotes Mäntelchen hat er abgelegt. Jetzt trägt er lieber Grau. Sterbensmüde sieht er von einem Tag auf den anderen aus, „mürrisch“ und „fröstelnd“, wie Kurt Tucholsky sagt. Mit dämmerndem Blick, die Finger kalt und klamm, zieht er sich in sich selbst zurück, hüllt sich ein in Nebelschleier. Sein kühler Atem kündigt Frost an.
Erschrocken werfen die Bäume ihre letzten Blätter ab. Mit kahl gespreizten Ästen stehen sie jetzt da. Riesenhafte, reglose Geister, nichts als feuchtes Laub zu ihren Füßen. Um sie herum schattenhafte, grau verhangene Stille. Nur ab und zu ein geheimnisvolles Rascheln. Der Wind ist unterwegs.
Was den Herbst besonders sympathisch macht ist sein farbenfroher und tief durchsonnter Optimismus, dass alles Ende kein wirkliches Ende ist, vielmehr ein Wandel. Dass alles Sterben letztendlich der Beginn eines blühenden Neuanfangs ist. Wenn auch nicht jetzt, so doch später.
Deshalb schmückt er sich auch mit glitzernden Fäden, Silberfäden, die er wie Fangnetze auswirft. Im milden Sonnenlicht wehen sie durch die Luft, streifen den Wanderer zart und flüchtig, einen Atemzug lang, wie eine Ahnung nur, wie ein leises Versprechen.
Schlussgedanke: Der Herbst zeigt uns auf zauberhafte Weise, das Alles mit Allem verwoben ist und ein jedes gut aufgehoben im ewigen Kreislauf des Stirb und Werde. Diesem wundersamen Reigen, der so alt und göttlich ist wie die Welt selbst.
