Zeitgeflüster

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„Manchesmal in der Nacht, fällt ein Stern mir in den Schoß …“, heißt es bei der Dichterin, die eine Rose im Namen trägt. Mir fällt, im Gegensatz zu Rose Ausländer, in manchen Nächten, ein Gedanke in den Schoß. Der Gedanke nämlich, dass die Zeit unaufhörlich verrinnt, wie der Sand einer Sanduhr, der nicht aufzuhalten, wenn er einmal in Fluss geraten ist.

Die Zeit ist ein großes Geheimnis. Etwas, das uns lautlos berührt und verändert. Im Gegensatz zu uns kommt sie nie atemlos daher. Sie hetzt und stolpert nicht, stürmt und drängt nicht, ihr Schritt ist gleichmäßig wie der Wechsel von Tag und Nacht. Unbeirrbar. Jahraus und jahrein. Und dabei macht sie ein stets gleichbleibend freundliches Gesicht.

Was aber bedeutet es nun für uns, dass die Zeit – so kostbar und so flüchtig – unermüdlich verrinnt. Eines gewiss. Sie sagt uns, dass wir älter werden. Aber – und das ist das Versöhnliche am Lauf der Zeit – neben aller Vergänglichkeit bedeutet Fülle an Jahren, auch Fülle an Leben.

Mir ging es vor einiger Zeit so, dass ich mit meinen angehäuften Jahren durchaus gut leben konnte. Als aber jemand nach meinem Alter fragte und ein anderer stellvertretend für mich antwortete, zuckte ich innerlich zusammen, spürte Verwirrung wie Lazarus beim Anblick des Tageslichtes. Was hatte mich erschreckt? Vielleicht die plötzliche Eingebung, dass der größte Teil meines Lebens bereits hinter mir lag. Und dass diese Zeit, diese so kostbare Lebenszeit, viel zu schnell vergangen war.

Dieser Schnelligkeit gilt es etwas entgegenzusetzen. Muße zum Beispiel. „Die größten Ereignisse“, so der Philosoph Friedrich Nietzsche, „das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden“.

Gerade der Tag, an dem das alte und das neue Jahr sich verschwistern, ist eine ausgemacht passende Zeit, um sich solch eine stille Stunde zu gönnen. Auf denn! Verlassen wir die warme Stube und wandern hinaus in die Natur. Streifen wir den „Geist der Schwere“ (Nietzsche) ab und werden leicht wie die kalte Luft, die uns einhüllt. Seien wir ganz im Augenblick, im Jetzt. Diesem edelsten und kostbarsten Gut, das die Zeit uns schenkt. Denken wir nicht voraus, schauen wir nicht zurück, konzentrieren wir uns vielmehr darauf, im winterlichen Weiß das Element aufzuspüren, das der Zeit durchaus ähnlich ist. Das Wasser. Durch sein unermüdliches Strömen symbolisiert es das grundlegende Lebensprinzip. Leben ist Fluss, ist fließendes Treiben, ist unaufhörlich unaufhaltsam verrinnende Zeit. Und während der Schnee unter unseren Schuhen knirscht, träumende Tannen uns grüßen, entdecken wir einen Bach in seinem frostigen Bett. Und da stehen wir nun unter dem weiten blauen Winterhimmel, und schauen auf das unverdrossen und munter drängende Wasser. Und während wir schauen und lauschen, scheint das Murmeln und Glucksen in uns hineinzuströmen, in uns nachzuklingen. Schwemmt Gedanken mit Leichtigkeit herbei – und mit ebensolcher Leichtigkeit wieder davon. Der Verstand, der stets begreifen und ordnen will, überlässt sich willig dem Geist des Wassers. Taucht ein ins freundliche Nass. Will sich an nichts mehr auf- und festhalten, bei nichts verharren, will ganz und gar lebendig sein, fließen eben, unbeirrt, selbst zum winterlichen Bach werden. Um zu feiern, was das Leben ausmacht, den Augenblick. Diesen vergnügten Zeitzeugen, der sich ebenso wenig fangen lässt wie das Murmeln unseres Baches.

Und während wir langsam zurück nach Hause gehen, am Wegesrand vielleicht noch den oder anderen mit Schnee bedeckten Baum bewundern, spüren wir eines ganz deutlich. Wie ein tiefes, zeitlos gültiges Wissen hat das Wasser es in uns hinein gespült:

„Auf der großen Zeituhr steht nur ein Wort: 

Jetzt.“ (Cervantes)

 

Sich selbst treu sein

Sich selbst treu zu sein im Wandel der Zeit, heißt auch und vor allem mit dem eigenen Weg identifiziert zu sein. In unserem Falle mit dem Weg ins und durchs Neue Jahr. Manchmal braucht es Zeit, den eigenen Weg zu finden. Aber – und das ist das Schöne an der Zeit, sie wartet lange genug auf den, der sie ernsthaft nutzen will.

Manchmal trauen wir uns nicht, erste Schritte auf einem neuen Weg zu tun. Die Zeit ist noch nicht reif, sagen wir dann und warten, vertagen, verschieben.

Und doch ist es wichtig, im Fluss der Zeit nicht „stecken zu bleiben“, sich in Grübeleien nicht zu verlieren. Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein, die ich irgendwann einmal gelesen habe. Da sitzt ein Mann an einem Fließband und muss Kerzen anzünden, eine nach der anderen. Und er tut es konzentriert und gewissenhaft. Doch irgendwann blickt er auf und bemerkt voller Entsetzen, eine der Kerzen vergessen zu haben. Und während er sich das Hirn darüber zerbricht, wie das passieren konnte, merkt er nicht, wie er über sein angestrengtes Grübeln fünf andere Kerzen unangezündet vorbeiziehen lässt.

Diese Geschichte lehrt, was wir genaugenommen alle wissen, aber irgendwie immer wieder zu vergessen scheinen. Dass es Unsinn ist, in Zeiten umherzuirren, die wir nicht beeinflussen können. Was einzig zuverlässig ist, was wir gestalten dürfen, ist das Jetzt.

Jedes Zurückdenken und jedes Vorausgrübeln prellt uns um den Genuss der Gegenwart, den eigentlichen Wert der Zeit.

 

Das Geheimnis des Lebens

An einer Hauswand in Tirol las ich einmal den Satz: „Wenn du das Geheimnis kennst, den Augenblick zu nützen, kennst du das ganze Geheimnis des Lebens.“

Diese Worte scheinen mir ein gutes Motto für den Beginn eines neuen Jahres zu sein. Und obwohl ich nicht viel von guten Vorsätzen halte, nehme ich mir dennoch vor, und lade Euch ein, es mir gleichzutun, mich im Jahr 2025 jeden Tag neu daran zu erinnern, ganz bewusst im Augenblick zu leben, ihn zu nützen und zu genießen. Erfüllung im Hier und Jetzt zu suchen und nicht in die Zukunft zu verlegen. Lieber dem gegenwärtigen Augenblick zu vertrauen, als auf Zeiten zu hoffen, von denen wir gar nicht wissen, ob wir sie überhaupt erleben.

Schlussgedanke: „Wenn heute Nacht ein Jahr beginnt, / beginnt ein neues Leben.“ (Ringelnatz)

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4 Kommentare zu „Zeitgeflüster“

    1. Lieber Jürgen, habe mir gerade das Schloßmuseum Molsdorf in der Nähe von Erfurt angeschaut.Das Motto des einstigen Hausherrn, das er gleich vier Mal an die Decke schreiben ließ, lautete: “Vive la joie!” Es lebe die Freude! Kein schlechtes Motto für ein neues Jahr. Denn Freude schenkt Kraft. Und die brauchen wir in diesen schwierigen Zeiten.

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